„Ich hätte nicht geglaubt, wozu die Deutschen fähig sind.“ - Veranstaltungsreihe in Gedenken der Novemberpogrome von 1938

In der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 wies der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, Einheiten im gesamten Reichsgebiet zur organisierten Verwüstung und Zerstörung von Synagogen, jüdischen Geschäften und Privatwohnungen an. Was als spontane Äußerung des „deutschen Volkszorns” auf den in Paris von Herschel Grynszpan ermordeten deutschen Regierungsbeamten Ernst vom Rath deklariert wurde, bedeutete nichts anderes als die letztmögliche Stufe der sukzessiven Herausdrängung von Jüdinnen und Juden aus der deutschen Gesellschaft. In dieser und den folgenden Nächten fielen den marodierenden Banden neben tausenden jüdischer Geschäfte, Hunderte von Synagogen beinahe 100 jüdische MitbürgerInnen zum Opfer, weitere 25000 wurden verhaftet und Konzentrationslager deportiert. Auch in Bremen wurde die damals im Schnoor gelegene Synagoge abgebrannt und fünf der ca. 1.300 jüdischen Gemeindemitglieder wurden ermordet.

Damit beschränkte sich die antisemitische Agitation und die Propaganda der Nazis nicht mehr nur auf die formale und juristische Ausgrenzung der jüdischen Minderheit aus Gesellschaft, Kultur und Politik (wie etwa mittels der Nürnberger Rassegesetze), sondern sie wurde nun ganz unverhohlen von staatlich sanktionierter Gewalt verfolgt. Die Novemberpogrome markierten in diesem Zusammenhang den Lackmustest für die Parteiführung der NSDAP: sie versuchte hierdurch auszuloten, wie weit sie ihren verbalen Angriffen Taten folgen lassen konnte, inwieweit sie mit Widerstand aus der Bevölkerung zu rechnen hatte. Nachweislich blieb dieser nicht nur nicht aus, sondern die Aktionen stießen in weiten Teilen auf breite Zustimmung, zuweilen auf tatkräftige Unterstützung.

Der deutsche Antisemitismus erschöpfte sich jedoch nicht an dem, was später mit dem euphemistischen Begriff der „Reichskristallnacht” beschrieben wurde. In dem wahnhaften Bestreben, die Erdoberfläche vom „Weltjudentum” zu befreien, riss er alle bisher gewahrten Grenzen zivilisatorischer Konventionen nieder und vollbrachte die unfassbare fabrikmässige Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Der Umstand, dass sich die deutsche Volksgemeinschaft entweder aktiv oder durch stillschweigende Duldung an der systematischen Entrechtung, Ausgrenzung und Vernichtung beteiligte, offenbart wie sehr der Antisemitismus ideologische Triebfeder und identitätsstiftendes Moment des nationalen Kollektivs war. Die Juden und Jüdinnen galten als die Gegenrasse, als „das negative Prinzip als solches”, von dessen Vernichtung das Glück der Welt abhängig gemacht wurde.

Selbstredend verschwand diese Ideologie in Deutschland nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im sogenannten sekundären Antisemitismus amalgamieren traditionelle Ressentiments gegenüber Juden (Geldgier, Machstreben, Weltverschwörung) mit Formen moderner Erinnerungsabwehr. In den „Schlussstrichdebatten” bzw. den ständigen Versuchen, die Opferzahlen durch die Bombardierung Dresdens oder die Vertreibung der Sudentendeutschen aufzurechnen, artikuliert sich das Bedürfnis einer bruchlosen Identifizierung mit der deutschen Nation und Geschichte. Die Frage der Schuld wird mit einem „Ja, aber …” abgewehrt. In der halluzinierten Unversöhnlichkeit der Jüdinnen und Juden werden diese als „Störenfriede” eines gleichsam geschundenen deutschen Kollektivs wahrgenommen, welches durch die permanente Ermahnung keine Ruhe findet.

Wir wollen die Erinnerung an das Novemberpogrom von 1938 zum Anlass nehmen, die fortschreitende Unbefangenheit gegenüber der deutschen Geschichte sowie die Aktualität von Antisemitismus und Nationalismus, deren Transformationen und akademischen Verschleierungen offen zu legen und einer entschiedenen Kritik zu unterziehen.

Eine Veranstaltungsreihe von associazione delle talpe.

Diese Reihe wird unterstützt von: ASTA der Universität Bremen, FemRef (Autonomes feministisches Referat der Universität Bremen), Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen, Heinrich-Böll-Stiftung Bremen und dem Infoladen Bremen.

Programm

Einführung in Theorie und Kritik des Antisemitismus
Seminar mit Associazione delle talpe
Sa, den 18.10.08 von 11- 16 Uhr
Infoladen, St.Pauli Str. 10-12, Bremen

Der 9. November – „Reichskristallnacht” oder Novemberpogrom
Vortrag mit Detlev Claussen
Di., den 21.10.08 um 19.30 Uhr in „Plantage 13″ , Bremen

Stadtspaziergang: Das November-Pogrom von 1938 in Bremen
Mit Joachim Bellgart
Sa, den 8.11.08 um 14Uhr ab Obernstr./ Ecke Sögestr., Bremen

Die Pogromnacht 1938 in Bremen & Die Feuerprobe
Ausstellung & Film
Mi, den 12.11.08 ab 19 Uhr Ausstellung & um 20 Uhr Filmvorführung im Zucker / Nook , Friedrich-Rauers-Str.10, Bremen

2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (Termin verschoben!)
Filmvorführung und Gespräch mit dem Regisseur Malte Ludin
(Termin unklar) im Cinema Ostertor, Ostertorsteinweg 105, Bremen

Antisemitismus und Geschlecht (Fällt aus!)
Vortrag mit A.G. Gender Killer
Sa., den 22.11.08 um 20 Uhr im Infoladen, St. Pauli Str.10-12, Bremen

Im Zeichen des Opfers. Zum Stand der deutschen Vergangenheitsbewältigung
Vortrag von Tobias Ebbrecht mit Filmbeispielen
Fr, den 28.11.08 um 19.30 Uhr in der Villa Ichon, Goetheplatz 4, Bremen

Broschüre

Die Inhalte der Ausstellung wurden im Nachgang der Veranstaltungsreihe überarbeitet und liegen seit 2013 in der Broschüre Ich hätte nicht geglaubt, wozu die Deutschen fähig sind vor.

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